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Ein verlorenes Spiel noch gedreht

(sh:z; Hans-Werner Klünner) Nach 34 Minuten hatten etliche der 6300 Zuschauer die SG Flensburg-Handewitt abgeschrieben und überlegt, die Campushalle schon vorzeitig zu verlassen. 26 Minuten später dachte niemand mehr daran. Minuten lang feierten die SG-Anhänger ihre Mannschaft und waren froh, an diesem denkwürdigen Nachmittag dabei gewesen zu sein. Das Team von Ljubomir Vranjes hatte das eigentlich schon verlorene Topspiel der Handball-Bundesliga gegen die Füchse Berlin nach einem 12:19-Rückstand noch gedreht und mit dem 28:25 (12:17)-Erfolg selbst den zweiten Tabellenplatz übernommen.

Von "unglaublich" über "sensationell" bis "fantastisch" reichten die Kommentare nach dem Schlusspfiff. Doch alle diese Begriffe beschrieben nicht wirklich, was sich in der zweiten Hälfte auf dem Parkett abgespielt hatte. SG-Trainer Ljubomir Vranjes konnte das, was seine Spieler geleistet hatten, nur in einem Satz zusammenfassen. "Das war eine geile Mannschaftsleistung, heute kann ich alle nur loben." Und auch das Publikum bekam ein Lob: "Ohne die Zuschauer hätten wir es nicht geschafft." Füchse-Trainer Dagur Sigurdsson dagegen  war total frustriert, dass seine Mannschaft ein Sieben-Tore-Polster nicht ins Ziel hatte retten können: "Wir wussten, dass wir in Flensburg in der zweiten Halbzeit unter Druck geraten. Diese Prüfung haben wir heute nicht bestanden."

Über 40 Minuten lang hatte das Berliner Kollektiv glänzend funktioniert. Jaszka, Christophersen und Co. hatten immer wieder Lücken in die SG-Defensive gerissen, die vor allem im ersten Durchgang keine Einstellung zum Gegner gefunden hatte und fast immer einen Schritt zu spät gekommen war. Hinzu kam, dass die Berliner aus fast allen Lagen trafen. "Aber wir wussten, dass sie nicht 60 Minuten lang so werfen konnten wie vor der Pause", erläuterte SG-Mannschaftskapitän  Tobias Karlsson. "Wir wollten schneller in Halbzeit zwei auf den Beinen sein und damit unseren Torhütern helfen."

Dieses Vorhaben setzte die SG eindrucksvoll um. "Wir geben nicht auf, wir glauben an uns", beschrieb Keeper Mattias Andersson, der in den zweiten 30 Minuten zum großen Rückhalt wurde und insgesamt 19 Würfe abwehrte (darunter zwei Siebenmeter), die Flensburger Willensstärke. "Zudem hatten wir in Berlin einen Acht-Tore-Rückstand wettgemacht." Mit unbändigem Kampfgeist und Leidenschaft starteten die Gastgeber ihre Aufholjagd, zwangen den Gegner immer wieder in Zweikämpfe und brachen damit das Berliner Kollektiv auf.

Petar Djordjic erzielte in der 49. Minute den 22:22-Ausgleich und war 180 Sekunden später auch zum 24:23 erfolgreich, der ersten Flensburger Führung seit der 5. Minute (3:2.). Die Zuschauer hielt es schon lange nicht mehr auf ihren Sitzen. Michael Knudsen traf zum 26:24 und der in der zweiten Hälfte ebenfalls überragende Lasse Svan Hansen kurz darauf zum 27:24 (57.). Das war die Entscheidung. Der Rest war nur noch Jubel.

Die SG ist jetzt Tabellenzweiter. Doch Ljubomir Vranjes interessierte das nur am Rande. "Platz zwei, drei oder vier - das sind für mich alles nur Nummern", sagte der Trainer. "Wir haben bis zum Saisonende noch viel Arbeit vor uns." Die Flensburger haben in der Bundesliga jetzt den VfL Gummersbach vor der Brust, stehen zudem im Halbfinale des DHB-Pokals und im Europapokal-Halbfinale  gegen BM Aragon. "Wir steuern auf ein tolles Saisonfinale zu", sagte Geschäftsführer Holger Kaiser voller Vorfreude und urteilte: "Die Mannschaft hat sich in allen Bereichen toll entwickelt."

Diese Aussage wurde durch die Tatsache untermauert, dass Lars Kaufmann, der die SG mit sieben Toren vor der Pause am Leben gehalten hatte, fast in der kompletten zweiten Hälfte auf der Bank saß. Für ihn spielte Petar Djordjic auf halblinks und erzielte ebenfalls wichtige Tore. "Ich habe zwei Halblinke, denen ich vertraue", begründete Vranjes die für viele überraschende Maßnahme. "Und beide sollen spielen." Lars Kaufmann hatte kein Problem damit, in der entscheidenden Hälfte lediglich Zuschauer gewesen zu sein. "In einem Spitzenteam sollen sich zwei Spieler auf einer Position ergänzen. Ich glaube, die Zuschauer haben auf Rückraum links eine gute Leistung gesehen."