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Medwedi Tschechow: Russische Extraklasse

In der Sowjetunion kam es vor, dass man Städten den Namen besonders würdiger Personen verlieh. So nennt sich die Trabantenstadt, die 80 Kilometer südlich von Moskau liegt, seit 1954 zu Ehren des russischen Schriftstellers Anton Tschechow (1860-1904). Wenn dieser heute in der ehemaligen Handelssiedlung, die inzwischen 73000 Einwohner zählt, leben würde, hätte der Literat reichlich Stoff. Anton Tschechow könnte beispielweise die „Erfolgsstory“ des Handball-Klubs Medwedi Tschechow erzählen.

Tschechow und Vladimir Maximow – ein untrennbare Symbiose. Fotos: Hagemann (3), Medwedi (3)

Als Biographie würde sich die Vita von Wladimir Maximow anbieten. Der einflussreiche Trainer ist eine der Ikonen des Welthandballs. Als Spieler feierte er mit der Auswahl der Sowjetunion und MAI Moskau große Erfolge, wurde 1976 sogar Olympiasieger. Als Nationaltrainer schaffte der Russe ein Novum: Weltmeister, Europameister und Olympiasieger – diese Ballung von Triumphen kann kein Coach auf dem Globus vorweisen. Noch heute ist Wladimir Maximow der Chef der russischen Auswahl und in Personalunion der sportliche Leiter beim russischen „Abo-Meister“ Medwedi Tschechow.
Die Wurzeln des zweiten Erfolgsteams liegen noch nicht allzu weit zurück. Bis 2002 gehörte der beste Handballverein des Landes dem Armee-Klub ZSKA Moskau an. In den letzten Jahren der Sowjetunion feierte man unter diesem Dach sogar den Europapokal der Pokalsieger (1987) und der Landesmeister (1988). Doch dann wurde ZSKA zerschlagen, nur noch die Fußballer firmieren heute unter dieser Bezeichnung. Das übrigens sehr erfolgreich: Die Meisterschaften von 2003 bis 2005 wanderten in die Neun-Millionen-Metropole.

Wladimir Maximow

Wladimir Maximow nutzte den Neubeginn, um an einem anderen Ort das Fundament für ein neues, starkes, russisches Team zu errichten. Unter dem Begriff Medwedi – „Bären“. Zunächst wendete er sich an einen alten Bekannten, an Ghenadij Nedosecker, dem Präsidenten der Region Tschechow. Mit seiner Unterstützung gelang es dem lebenden Handball-Denkmal einen noch ambitionierteren Politiker ins Boot zu kriegen – Boris Gromow, dem Gouverneur der Oblast Moskau. „Es war ein großer Vorteil“, berichtet Wladimir Maximow, „dass Boris Gromow früher selbst Handballer war und ihm der Sport nicht gleichgültig war.“ Allerdings diktierte der Gouverneur einen Wunsch ins Protokoll. Man solle doch beweisen, dass auch mit russischen Eigengewächsen international Lorbeeren zu ernten sind.

Der russische Handball-Tempel: die Olympsky-Halle.

Diese Bitte passte Wladimir Maximow durchaus ins Konzept. Im schwebte eine Blockbildung zwischen den „Bären“ und der Nationalmannschaft vor. „Wir haben genug Talente“, sagte er. „Von ihnen hängt die Zukunft des russischen Handballs ab. An diese glauben die Legionäre, die ins Ausland wechseln nicht mehr.“ Ebenso war Wladimir Maximow klar, dass „würdige Bedingungen“ nötig waren, um die vielversprechenden Handballer im eigenen Land zu halten.
Diese bestehen seit dem 30. Juli 2003, als man unter gehörigem Tamtam in Tschechow die neue Olympsky-Halle einweihte. Das Bauwerk, das die Wünsche von 20 Sportarten erfüllt, war ein großer Image-Gewinn für die Moskauer Trabantenstadt. Schwimmhalle, Trainingsräume, Bowling-Bahn, Bars, Restaurant, Sauna – all das umrahmt das „Herz“ in der Mitte des Komplexes. Die schmucke Arena mit 3000 Plätzen und einem größeren VIP-Bereich bietet nicht nur Musik-Konzerten einen prächtigen Rahmen, sondern auch den Handballern von Medwedi Tschechow. „Wir wollen Olympiasieger im Handball“, forderte Gouverneur Boris Gromow, „und eine der größten Sportstädte in Russland werden.“

In Tschechow ist man stolz auf seine Handballer.

Die ersten Ergebnisse sind eindrucksvoll. Binnen fünf Jahren erhöhte sich die Zahl der aktiven Sportler in Russland von 784 auf 16000. Für die Umsetzung des zweiten Teils der Forderung ist Wladimir Maximow verantwortlich. Seine Philosophie fußt auf vier Teams, von denen die beiden besten am Spielbetrieb der russischen Superliga teilnehmen. „Gold“ ist geblockt, und hinter Dinamo Astrachan lief die zweite Garde zuletzt auf „Bronze“ ein. International schafften die „Bären“ zwar noch nie den Sprung ins Viertelfinale der Champions League, dafür glückte im letzten Jahr der Coup im Pokalsieger-Wettbewerb. Gegen Nordhorn in der Vorschlussrunde und gegen Valladolid im Finale war man jeweils einen Treffer besser – und perfekt war der erste internationale Titel für Tschechow. Eine gute Referenz. Der Schriftzug des französischen Lebensmittel-Giganten „Danone“, der seit 1992 ein Werk in Tschechow betreibt, ziert die Brust der „Bären“.
Die SG Flensburg-Handewitt hat noch nie gegen den russischen Meister gespielt. Doch an unbekannten Gewässern geht man nicht auf „Bären-Jagd“. Vereins- und National-Team gleichen sich fast aufs Haar, wie die jüngste Europameisterschaft in der Schweiz verriet. Beim Spiel um Platz fünf gegen Deutschland wirkten auf russischer Seite nicht weniger als zwölf Akteure der „Bären“ mit, ergänzt um den Linksaußen Edouard Kokcharov, der in Celje unter Vertrag steht.

Alexey Rastvortsev

Diese Block-Bildung machte Medwedi schon in der Saison-Vorbereitung zu einem großen Brocken. Egal ob Celje, Dunaferr oder Krasnodar – die Mannen von Trainer Wladimir Maximow spielten alles in Grund und Boden. Dieser Trend setzte sich in der russischen Superliga fort. Zehn Spiele, zehn Siege und ein Schnitt von 43 Toren pro Partie! Zur Eröffnung der Champions League glückte vor 2300 Fans ein ungefährdetes 40:25 gegen Metalurg Skopje. „Das Spiel war eine Freude“, strahlte Wladimir Maximow angesichts einer Angriffsquote von 80 Prozent. „Ich konnte ohne Probleme einige taktische Varianten testen.“ In Zagreb büßten die „Bären“ dann aber doch die ersten „Miese“ der Saison ein. 19:26 – die zweite Hälfte war verkorkst.
Die insgesamt positive Zwischenbilanz ist kein Wunder, verfügt Medwedi Tschechow doch über viele außergewöhnliche Handballer. So stehen gleich fünf Bronzemedaillen-Gewinner von Athen im Kader. Alexey Rastvortsev, der dynamischen Rechtshänder im Rückraum, spielte schon 2002 gegen die SG. Damals noch für Energia Voronezh. Ebenso haben sich schon der elegante Spielmacher Vitaly Ivanov, der explosive Linkshänder Alexey Kamanin und der torhungrige Halblinke Yury Egorov im Rückraum internationale Meriten gesammelt. Der fünfte im „Bronze-Quintett“ ist der kraftvolle Kreisläufer Michail Tschipurin.

Das Team von Medwedi Tschechow.

Dahinter hat sich längst eine junge Garde erfolgshungriger Handballer gebildet. Mit Vasily Filippov wirbelt ein weiterer torgefährlicher Regisseur. Im rechten Rückraum feierte Konstantin Igropulo, der von Panellinios Athen kam, aber einen russischen Pass besitzt, im März ein vielversprechendes Debüt für Medwedi Tschechow. Und das mit nur 21 Jahren. Mit Alexey Peskov ist ein weiterer Linkshänder verletzt. Am Kreis lauert mit Egor Evdokimov ebenfalls eine junge Alternative auf satte Erfolge.
Zwischen den Pfosten hat sich Alexey Kostygov zur „Nummer eins“ gemausert. Unter den Fans gilt er als das „Erbe“ des ruhmreichen Andrej Lavrovs. Alexey Kostygov pariert in Verein und Nationalteam hinter einer 5:1- oder 3:2:1-Abwehr-Formation. Nur eine Position wechselt. Statt Edouard Kokcharov steht der junge Linksaußen Timur Dibirov, der Anfang April mit seinem letzten Treffer Nordhorn die Finalträume zerstörte, an der Spitze. Auf Rechtsaußen schießt ein weiterer „Komet“ immer wieder Richtung gegnerisches Tor: Dmitry Kovalev.
Keine Frage: Unter dem Strich versammelt sich unter dem Vereinsnamen „Medwedi Tschechow“ ein Ensemble, das in der Handballwelt für viel Musik sorgen kann. Selbst den Triumph in der Champions League oder „Gold“ bei Olympia 2008 ist der eingespielten Truppe zuzutrauen. Wenn der große Wurf wirklich gelingen sollte, wechselt Tschechow vielleicht wie schon häufiger in seiner Geschichte seinen Namen. Wie wäre es mit Maximow?

Homepage Medwedi Tschechow