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Am Handball-Wunder nur geschnuppert

Spaniens Spitzenclub BM Ciudad Real war eine Nummer zu groß für den Vizemeister der Handball-Bundesliga. Nach dem 22:31 vor einer Woche verlor die SG Flensburg-Handewitt auch das Rückspiel im Halbfinale der Champions League mit 27:29.
Frust, Enttäuschung, Ärger und düstere Ahnungen: Wo man am Sonnabend in der Campushalle und später in der Club-100-Lounge auch hinhörte, es war kaum etwas Positives herauszufiltern. Das Scheitern der SG Flensburg-Handewitt im Halbfinale der Champions League warf ein Schlaglicht darauf, dass selbst größte Erfolge eine düstere Seite haben. Die Gefahr der Depression nämlich, die eintritt, wenn die Hoffnung auf ein „Immer mehr“ an süßen Siegen sich nicht erfüllt.

Enttäuschung: Marcin Lijewski

Was ist passiert? Nicht anderes als das, was sich am Wochenende abertausende Male in der Welt des Sports ereignete. Eine gute Mannschaft musste sich einer besseren geschlagen geben. Die SG Flensburg-Handewitt in diesem Fall mit 27:29 (14:12) gegen das spanische Spitzenteam BM Ciudad Real. Es war zu erwarten, nachdem den Flensburgern das Hinspiel (22:31) völlig missraten war.
Nur wenige trauten sich, gegen den Trend zur Trübsal anzugehen und eine realistische Einordnung des Geschehens zu versuchen. SG-Regisseur Glenn Solberg etwa stellte trotzig fest: „Wir spielen eine gute Saison. Wir sind unter den besten Vier in Europa, wir haben noch eine Chance in der Meisterschaft.“
Gleichwohl war vieles schief gelaufen in diesem Halbfinale. Es begann mit der Auslosung, die der SG bereits den mutmaßlichen CL-Sieger bescherte. Gegen Veszprem hätte es vielleicht für das Finale gereicht. Die Woche vor dem Spiel in Spanien war durch Verletzungen und Krankheit beeinträchtigt. „Keine Leute im Training“, klagte Trainer Kent-Harry Andersson, dessen Vorbereitung so empfindlich gestört wurde. Zu sehr haben sich die Flensburger vor dem ersten Treffen mit Ciudad Real klein geredet. Eine „Weltauswahl“, das ist auch die SG. Im Hinspiel schließlich wollten einige Spieler zu viel und andere zu wenig. In der Quijote-Arena wurde das Finale verspielt, nicht in der Campushalle.

Talant Duishebaew

Dort zeigten die Flensburger, dass selbst Ciudad Real verwundbar ist. Andersson hatte in der ersten Woche dieser Saison, in der ihm alle Spieler zur Verfügung standen, den nahezu perfekten Plan für die Revanche entworfen: Das Problem 5:1-Abwehr gelöst, die Ciudad-Titanen Rutenka und Urios wieder auf irdisches Maß gestutzt. Die SG glaubte an sich — fast eine Halbzeit lang, in der sie überragenden Handball spielte. Ciudad wankte und Trainer Talant Dushebajew war nicht so cool, wie er hinterher tat. Beim 6:10 (21.) nahm er eine Auszeit, bei der er mit deutlichen Anzeichen von Hektik und Nervosität auf seine Leute einredete. „Die Flensburger werden das Tempo nicht durchhalten“, kündigte er seiner Mannschaft an.
Zur Prüfung, ob Anderssons Plan über 60 Minuten tragen und Ciudad wirklich Nerven zeigen würde, kam es nicht. Die SG versäumte es, zur Halbzeit die möglichen fünf oder sechs Tore vorzulegen, die eine realistische Aussicht auf einen Sieg mit den notwendigen zehn Treffern Differenz eröffnet hätte. Leichtfertig wurden in den letzten fünf Minuten vor der Pause beste Konterchancen vergeben. Der Glaube an die Sensation nahm irreparabel Schaden.

Wo ist Rolando Urios?

So war es nur folgerichtig, dass die zweifelnden Flensburger unter dem Ansturm der Spanier in der zweiten Halbzeit zusammenbrachen. Drei Tore von Entrerrios zur 15:14-Führung — den Rest gab der SG der Torhüter Arpad Sterbik, der provozierend stoisch da stand wie eine Wand. Nach 35 Minuten war alles gelaufen.
Die SG-Verantwortlichen werden in den nächsten Tagen Bilanz ziehen und entscheiden, ob Feinjustierungen oder radikale Schnitte im Team   erforderlich sind. Sie sind gut beraten, wenn sie dies in Ruhe und mit etwas Abstand tun. Am Sonnabend ging die Tendenz zu einem größeren Umbruch. „Wenn wir wirklich mithalten wollen, müssen wir unseren Kader  auf den Positionen 11, 12, 13, 14 verbessern“, sagte Manager Thorsten Storm. „Die zweite Garde kann unsere erste in solchen Spielen nicht ausreichend unterstützen. Das ist die klare Erkenntnis aus dieser  Champions-League-Saison“, meinte SG-Präsident Frerich Eilts. Das deutet darauf hin, dass Spieler wie Kasper Nielsen und Jan Thomas Lauritzen eher nicht vor einer großen Zukunft in Flensburg stehen. Nielsen jedenfalls sah man am Sonnabend bereits im intensiven Gespräch mit dem Solinger Spielerberater Stefan Bögel.

Vier Fragen an Kent-Harry Andersson

Das Finale ist verpasst. Beherrscht jetzt die Enttäuschung Ihre Gefühle oder finden Sie auch tröstliche Aspekte im heutigen Spiel?
Kent-Harry Andersson: An den Gedanken, dass wir ausscheiden können, mussten wir uns nach dem Hinspiel gewöhnen. So groß ist der Schock nicht mehr. Aber ich habe daran geglaubt, dass wir es schaffen können. Wir haben für alle Probleme, die wir in Spanien hatten, eine Lösung gefunden. Leider haben wir einige hundertprozentige Torchancen nicht genutzt. Das war der Knackpunkt. Aber ich meine, dass wir trotzdem stolz auf das Erreichen des Halbfinales der Champions League sein können.

Alberto Entrerrios ärgerte die SG zu Beginn der zweiten Hälfte.

Wie erklären Sie den Einbruch zu Beginn der zweiten Halbzeit?
Andersson:  Das war die Enttäuschung. Man schaut in der Pause in die Augen der Spieler und weiß, da kann man nichts mehr machen. Allen war klar, dass wir vier, fünf Tore Vorsprung zur Halbzeit gebraucht hätten. Sie hatten den Glauben verloren.
Wäre es überhaupt möglich gewesen, auf dem hohen Niveau und mit dem Tempo der ersten 25 Minuten weiterzumachen? Ihr spanischer Kollege Talant Dushebajew hat dies bezweifelt.
Andersson: Ehrlich gesagt, ich eigentlich auch. Aber wir hatten nur diese eine Chance. Ich habe meinen Spielern gesagt: Ihr müsst laufen, laufen, laufen und Tore mit der schnellen Mitte erzielen. Die Hoffnung war, dass wir uns schnell absetzen und Ciudad vielleicht die Nerven verliert. Einen Plan B gab es nicht. Ich finde, wir haben einen guten Versuch gemacht.
Braucht die SG neue Spieler, um international ganz vorn dabeizubleiben? Welche Akteure von Ciudad Real hätten Sie gerne?
Andersson: Eine Mannschaft wie Ciudad kostet sehr, sehr viel Geld. Wir müssen andere Lösungen finden. Von Ciudad möchte ich keinen haben. Ich habe eine gute Mannschaft.

Spieler des Tages: Glenn Solberg

Mit schweren Beinen kam Glenn Solberg aus der Kabine, gezeichnet von den Anstrengungen der 60 Minuten und der Enttäuschung. Alles gegeben, alles versucht, alles verloren. Dem 34 Jahre alten Norweger war die letzte Chance auf einen ganz großen Titel entglitten. Den Frust wollte er in diesem Moment jedoch nicht zu nah an sich heranlassen. „Natürlich bin ich traurig nach so einem Spiel, aber so ist der Sport. Die anderen waren einfach superstark“, sagte Solberg.
Aber eben nicht unschlagbar. Das begannen die Flensburger zu ahnen, als sie sich in der Woche nach dem Hinspiel-Desaster darüber klar wurden, was in Ciudad Real schief gelaufen war. Solberg war einer der großen Verlierer der ersten Partie. „Ich fühlte mich gut, hatte viele Videos von den Spaniern gesehen. Vielleicht wollte ich da zu viel“, grübelte er über die Ursache seines Versagens in der Quijote-Arena.

Spieler des Tages: Glenn Solberg

In der Campushalle machte er nun alles besser. Solberg war in der ersten Hälfte die überragende Figur, als intelligenter Spiellenker, als Chef der Abwehr. Der Wadenbeißer David Davis konnte die Kreise des Norwegers zunächst nicht stören — Solberg und Trainer Kent-Harry Andersson hatten ein brillantes Konzept gegen die so ungeliebte 5:1-Abwehr entwickelt.
Die SG schien bereit für die Sensation. Doch wieder nahm das Verhängnis seinen Lauf. Ein paar Chancen in der ersten Halbzeit nicht genutzt, direkt nach Wiederbeginn überrannt. „Da haben wir den Glauben verloren“, benannte Solberg den Grund dafür, dass es eine zweite Niederlage gab. Er war überzeugt, dass die SG ein normales Spiel — ohne die Neun-Tore-Last auf den Schultern — gegen Ciudad Real gewonnen hätte. „Wir haben gezeigt, dass es geht. Vielleicht hätten wir insgesamt mehr Zeit zur Vorbereitung auf dieses Halbfinale gebraucht“, meinte Solberg achselzuckend.
Reizt ihn da nicht doch ein neuer Versuch im nächsten Jahr? „Nein“, sagte der 34-Jährige und lächelte endlich wieder, „die Champions League ändert nichts. Mein Körper hat mir Bescheid gesagt.“

Die Analyse

23 Minuten lang lief alles nach Plan für die SG Flensburg-Handewitt. Alle Probleme, die den deutschen Vizemeister im Hinspiel gelähmt hatten, waren gelöst. Die Einstellung war um Klassen besser als sechs Tage zuvor. In der Abwehr stimmten das Timing und das Maß an notwendiger Härte. Siarhei Rutenka und Rolando Urios bekamen diesmal nicht die Freiräume, die sie in Ciudad Real genossen hatten. Der Slowene auf Halblinks, der seine Würfe unübersehbar „ankündigt“, wurde im richtigen Moment attackiert. Rutenka machte schließlich entnervt für Julio Fis Platz und tauchte in der zweiten Halbzeit nur noch am Kreis auf. Dort war Rolando Urios mit Rückenproblemen ausgeschieden. Doch auch, solange er fit war, wurde der Kubaner mit spanischem Pass weitgehend durch die SG-Abwehr kontrolliert, die sich diesmal nicht hinter, sondern vor ihm aufbaute. Zudem bot Jan Holpert eine großartige Leistung, der Angriff stellte sich gegen die spanische 5:1-Abwehr wesentlich cleverer an als am Sonntag zuvor.

Blazenko Lackovic in der Mangel.

Mit ihren herausragenden individuellen Stärken kamen die Spanier kaum zum Zuge. Doch sie hatten ja noch einen „zweiten Sturm“. Als Claus Jakobsen  die Rückraummitte übernahm, bekam das Ciudad-Spiel plötzlich Struktur und Kultur. Der Däne verstand es, Fis und vor allem Petar Metlicic im rechten Rückraum immer wieder in Wurfposition zu bringen.
Ciudad war nach 23 Minuten wieder im Film, während die Flensburger in dieser Phase drei hochkarätige Chancen vergaben — der Beginn des Zusammenbruchs. Nur 14:12 nach 30 Minuten — das war zu wenig. Nach Wiederbeginn ging alles ganz schnell. Die ersten vier Tore gehörten Ciudad Real. Damit war die Partie gelaufen.