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Die Bank macht den Unterschied

Lasse Boesen feuerte eine Wasserflasche unter die Bank, versetzte ihr noch einen beherzten Tritt, ließ sich auf seinen Platz plumpsen und verbarg den Kopf unter einem weißen Handtuch. Es war die 53. Minute des Bundesliga-Derbys zwischen der SG Flensburg-Handewitt und dem THW Kiel, und das Spiel war beim Stand von 28:32 aus Sicht der Gastgeber verloren. Boesen, vom überragenden SG-Akteur der ersten Hälfte zur tragischen Figur geworden, ward nach dem Spiel nicht mehr gesehen. Zwei Pässe waren ihm missglückt, in die die Kieler Christian Zeitz und Filip Jicha gnadenlos hinein stießen und der SG das Genick in einem grandiosen Handballspiel brachen. 31:37 (18:16) hieß es am Ende nach spektakulärem Hin und Her – Flensburg war damit weit unter Wert geschlagen.
Das räumte sogar THW-Trainer Alfred Gislason ein: „Flensburg hat wie ein Favorit gespielt und sehr tollen Handball gezeigt. Es war schwer für uns.“ Die Höhe des Erfolges sei allein dem Glück geschuldet, gegen Ende einige leichte Bälle erobert zu haben. Gislason hatte hoch gepokert, als er eine völlig neue Startaufstellung auf die Platte schickte, ohne Jicha, Marcus Ahlm oder Jerome Fernandez. Sein Plan war, „durch  eine breite Bank am Ende mehr Luft“ übrig zu haben. Das ging auf, das ergab schließlich den Unterschied, doch zu Beginn machten nicht nur die Kieler eine verdutzte Miene zum Boesen-Spiel.
Der bisweilen lethargisch wirkende dänische Halblinke lief am Mittwoch zu ganz großer Form auf und war von seinem direkten Widerpart, dem Kieler Neuzugang Milutin Dragicevic, nicht zu kontrollieren. Die Frage in der Pressekonferenz an SG-Trainer Per Carlén, was denn mit Boesen passiert sei, unterbrach Gislason mit dem Einwurf: „Das habe ich mich auch gefragt. Den habe ich lange nicht so gesehen.“ Carlén erklärte, dass er viel mit Boesen gesprochen habe und einige Abläufe im Angriff neu auf ihn zugeschnitten worden seien. „Er war heute ein richtiger Halblinker. Ein Superspiel, ich freue mich sehr für ihn. Ich hoffe, dass er das fortsetzt.“ Das unglückliche Ende wollte ihm der Trainer nicht ankreiden. „Acht Tore, schöne Anspiele, Siebenmeter geholt und zwei technische Fehler im ganzen Spiel –  mehr geht fast nicht“, sagte Carlén.
Es gab andere, die mehr auf ihre Kappe zu nehmen hatten als Boesen. Torhüter Dan Beutler etwa, der sehr stark begonnen und dann ebenso nachgelassen hatte. „Unser Angriff war anfangs Weltklasse. Ich bin sehr zufrieden mit der Leistung der Mannschaft, ich bin nicht zufrieden mit meiner Leistung. Hätte ich so gehalten wie bisher in dieser Saison, hätten wir gewonnen“, sagte der Schwede. Von Rechtsaußen Lasse Svan Hansen war außer vier Fehlwürfen nichts zu sehen. Links spielte Anders Eggert im Angriff einen starken Part, war in der Abwehr aber machtlos gegen den  brillanten Christian Sprenger.
Neben Boesen hielten Oscar Carlén, Jacob Heinl und Tobias Karlsson mit aufopferungsvollem Einsatz 50 Minuten lang die SG-Hoffnungen wach. „Aber dann wurden wir müde“, meinte der junge Carlén, der dazu noch mit blutender Nase nach einem Zusammenstoß mit Zeitz das Spielfeld verlassen musste. „Kiel spielt bis zum Schluss mit unveränderter Power und Härte, und dann kommt auch noch Fernandez frisch ins Spiel.“
Alfred Gislason spielte nach und nach Quantität und Qualität seines Kaders aus. Herausragend agierte Christian Zeitz, der abgesehen von einem versuchten Kopfschuss gegen Beutler ein besonnenes Spiel bot. Die hässliche Provokation durch eine zunehmend störende und überflüssige „Fan“-Gruppe ertrug der Linkshänder gelassen: „Ich habe etwas gehört, aber nicht wirklich wahrgenommen.“ Gewohnt zuverlässig funktionierte die Kieler Tormaschine Filip Jicha. Zum Schluss gab Neuzugang Jerome Fernandez der SG den Rest. „Ich bin sehr froh, dass er auf unsere Seite spielt. Er hat schnell kapiert, was wir spielen“, meinte Gislason. In dem Franzosen personifiziert sich der Unterschied zwischen Kiel und Flensburg geradezu: Klafft ein Leck, holt der THW kurzerhand Weltklasse ins Boot, die SG muss mit Bordmitteln versuchen, sich über Wasser halten.