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Flensburg inszeniert „Königsklassen-Crash“

Es staute sich auf der Straße zur Flensburger Campushalle. Zwei Autos waren zusammengestoßen. Blechschaden! Für die Passanten sollte es ein Vorgeschmack auf den Abend sein. Denn die SG Flensburg-Handewitt inszenierte einen „Königsklassen-Crash“. Der haushohe Favorit verlor gegen den polnischen Meister Zaglebie Lubin, bislang bis auf das letztjährige Halbfinale im kaum prestigeträchtigen Challenge Cup ein unbeschriebenes Blatt in der europäischen Handball-Szene, sensationell mit 32:33. „Wir müssen uns schämen“, sagte ein maßlos enttäuschter SG-Trainer Kent-Harry Andersson. „Kein Spieler zeigte seine Normalleistung.“
Er hatte zumindest die Gewissheit, dass seine knappe Video-Analyse trotz mangelnder Quantität – die Polen schickten keine Mitschnitte – fundiert war. Spielmacher Bartlomiej Jaszka und der Halblinke Michal Kubisztal waren wie erwartet die „Köpfe“ von Zaglebie Lubin. Dieses Duo war aber nicht im Alleingang dafür verantwortlich, dass die Polen ein mehr als gleichwertiger Kontrahent waren. Die offensive Deckung der Polen, in der meist Adrian Niedospial die Spitze bildete, provozierte im Laufe der Partie so manche Fehlzündung der Flensburger Rückraum-Akteure. „Unsere Abwehr konnte das hohe Tempo über 60 Minuten gehen“, freute sich Zaglebie-Coach Jercy Szafraniec. „Das war entscheidend.“

Thomas Mogensen

Hinter den flinken Beinen seiner Vorderleute mauserte sich Torwart Michal Swirkula zum „besten Torwart der Partie“. Unerklärlich waren zudem die vielen im Sande verlaufenen Gegenstöße der Hausherren. Es fehlte die ruhige Hand im Aufbau. Zunächst sah es noch so aus, als könnte die SG einen normalen „Pflichtsieg“ landen. 10:7 nach knapp zehn Minuten. Doch Lubin setzte immer wieder nach. Schon zur Halbzeit waren die rund 30 mitgereisten Fans aus Lubin begeistert, nach dem Pausentee waren sie schier aus dem Häuschen.
Das 18:16, der einzige Treffer von Blazenko Lackovic, war der letzte Flensburger Lichtblick. Beim 19:23 wurde es erstmals mucksmäuschenstill in der „Hölle Nord“. Die 6:0-Abwehr ohne den erkrankten Johnny Jensen wirkte nun völlig indisponiert. Man merkte, dass Kasper Nielsen und Frank von Behren zuvor noch nie gemeinsam im Mittelblock agiert hatten. Kent-Harry Andersson setzte in der Schlussphase auf eine immer offensivere Deckung. Zwar verkürzte Michael Knudsen sieben Minuten vor dem Ende auf 27:28, doch Torge Johannsen schmetterte den möglichen Ausgleich „elegant“ an die Latte. Kurz darauf vergaben Lars Christiansen und Anders Eggert jeweils einen Strafwurf. Zu viele „Hypotheken“ in einer Schlussphase, in der Rechtsaußen Tomasc Kozlowski 20 Sekunden vor Schluss mit dem 31:33 die polnischen Jubelorgien eröffnete. 

Die Trainer-Stimmen

Kent-Harry Andersson, SG Flensburg-Handewitt: „Ich kann dieses Spiel nicht erklären. Vielleicht haben wir die Polen unterschätzt. Man muss vor jedem Gegner Respekt haben.“
Jercy Szafraniec, Zaglebie Lubin: „Die Mannschaft hat gezeigt, dass sie auch einen Gegner solchen Kalibers schlagen kann. Das war die Wiedergutmachung für die klare Niederlage in Ciudad Real.“

SG Flensburg-Handewitt: Absturz nach Vertrags-Verlängerung

Kroatische Sommermusik in der Campushalle, Schulterklopfen von den Kollegen und Applaus von den Rängen – nach 38 Minuten hatte Blazenko Lackovic sein erstes Tor der Saison 2007/2008 erzielt. Sein Comeback (Andersson: „Vielleicht habe ich ihn etwas zu lange spielen lassen“) und das von Torwart-Legende Jan Holpert, der unter großem Beifall der Zuschauer zwischen die Pfosten zurückkehrte, weil Dane Sijan nach dem Pausentee abbaute und die Nummer eins Dan Beutler wegen einer angebrochenen Nase pausierte, sollten eigentlich die „Story“ des Spiels werden.

Jan Holpert: Kein Glück beim Comeback

Es kam ganz anders: Nach der zweiten Heimniederlage muss die SG Flensburg-Handewitt die beiden Partien gegen Drammen und in Lubin auf jeden Fall gewinnen, um die lukrative zweite Gruppenphase der Champions League nicht zu verpassen. „Das war die schlechteste Leistung der letzten 20 Jahre“, fluchte ein Fan nach dem Abpfiff, um sich schnell vom „Schauplatz des Elends“ zu entfernen. Die Mannschaft verhielt sich ähnlich. „Gute-Laune-Bär“ Anders Eggert gab noch ein Autogramm, um dann dem „Herdentrieb“ zu folgen. Alle flüchteten hinter Kapitän Ljubomir Vranjes hinterher – im Rekordtempo in die Kabine.
Vergessen und ohne Bedeutung war an diesem düsteren Donnerstagabend die frohe Botschaft des Vortages. Die Verantwortlichen der SG hatten in den letzten Wochen ein Problem. Immer wenn Sportdirektor Anders Dahl-Nielsen oder Geschäftsführer Fynn Holpert mit einem Spieler über deren sportlichen Zukunft zu sprechen versuchten, bekamen sie eine Frage, die sie nicht beantworten konnten: „Wer ist nächste Saison in Flensburg Trainer?“ Nun ist das Geheimnis gelüftet. „Wir setzen auf Kontinuität und Vertrauen“, sagte Fynn Holpert und präsentierte die Vertragsverlängerung mit Kent-Harry Andersson. Der 58-jährige Schwede, der 2003 von Nordhorn zur SG wechselte und die Nordlichter auf Anhieb zur einzigen deutschen Meisterschaft führte, bleibt bis zum 30. Juni 2010. Zwei Jahre länger als ursprünglich geplant.
Durchaus eine überraschende Entwicklung. Als Kent-Harry Andersson im März 2006 seinen Vertrag bis 2008 verlängert hatte, liebäugelte er mit dem Abbruch seiner Bundesliga-Zelte und dem „schönen Enden“ seiner Karriere als Nationaltrainer. Im Sommer 2006 musste er am Innenohr operiert werden. Erst ein Jahr später war er wieder der Alte und strotzte vor neuer Kraft. Bis dahin machten die Namen des dänischen Nationalcoachs Ulrik Vilbek oder des ehemaligen Flensburger Interimscoach Viggo Sigurdsson die Runde. Ein Trainerwechsel schien nicht ausgeschlossen.

Kent-Harry Andersson

„Wir wollten mit ihm schon in diesem Sommer verlängern“, verriet Anders Dahl-Nielsen. Kent-Harry Andersson selbst brauchte noch etwas Zeit, bis seine Entscheidung reifte. „Wir haben eine gute Stimmung in Mannschaft und Umfeld“, sagte der Coach. „Außerdem hatte mir Anders mitgeteilt, dass die Mannschaft gerne mit mir weitermachen würde. Hätten 50 Prozent der Spieler es nicht gewollt, hätte ich aufgehört.“
Das Management setzt nun auf eine Signalwirkung und erhofft sich weitere Unterschriften in den nächsten Wochen. Die Verträge von gleich acht Spielern laufen aus. Zudem rechnet man damit, dass Marcin Lijewski vorzeitig nach Hamburg wechselt. Für die Nachfolge des polnischen Linkshänders bemühen sich die Flensburger um Holger Glandorf (HSG Nordhorn), der einst unter der Obhut von Kent-Harry Andersson zum Nationalspieler reifte. Mit Michael Knudsen ist sich die SG über eine gemeinsame Zukunft bereits einig. Der Kreisläufer besitzt aber ab 2008 einen Zwei-Jahres-Vertrag in Viborg, eine Vereinbarung, die der 29-Jährige schon 2005 schloss. Der dänische Klub soll eine Ablösesumme von 200000 Euro fordern. „Das prüfen wir rechtlich“, gibt sich Fynn Holpert kämpferisch. 

Zaglebie Lubin: Elf Stunden in Bus sind kein Problem

Marcin Lijewski saß wie ein angeschlagener Boxer in der Pressekonferenz. Wohl noch nie zuvor fiel es ihm so schwer, Statements in seiner Muttersprache zu lauschen. Trainer Jercy Szafraniec überschlug sich trotz seiner Heiserkeit („Wir haben das Spiel gewonnen, ich meine Stimme verloren“) mit Worten, wollte seinen fast zelebrierenden Redeflusses gar nicht beenden. Dann war endlich Marcin Lijewski an der Reihe, konstatierte mit großer Enttäuschung und wenigen Sätzen: „Wir haben den Gegner unterschätzt, das wurde hart bestraft.“
Statt eines schönen Wiedersehens mit alten Mitstreitern aus Verein, Nationalteam oder Junioren-Auswahl – schon am Vorabend hatte sich gleich nach der Ankunft des polnischen Trosses ein erstes Treffen ergeben – musste Marcin Lijewski damit leben, als einziger „polnischer Verlierer“ durch die Campushalle zu schleichen. Der Linkshänder selbst beteiligte sich mit diversen Fahrkarten an der „sportlichen Katastrophe“, war aber nur ein Teil eines „kollektiven Ausfalls“.

Jubel bei Lubin

Die Flensburger tappten offensichtlich in die Falle des „unbekannten Polens“. Bis auf den ehemaligen Geographie-Lehrer Kent-Harry Andersson, der Lage (im Süden Polens, 100 Kilometer östlich der deutschen Grenze) und Ortsgeschichte herunterbeten konnte, und natürlich Marcin Lijewski wusste niemand im SG-Lager etwas mit der polnischen Stadt Lubin anzufangen. Als sich herumsprach, dass der „Königsklassen-Novize“ mit dem Bus anreisen würde, klang alles nach „exotischem Beiwerk“ der Champions League, zumal der MKS Zaglebie in Ciudad Real mit 25:40 untergegangen war.
Einige Signale, dass der Titelträger aus dem Land des Vize-Weltmeisters kein „Sparrings-Partner“ sein würde, wurden offenbar nicht registriert. So hatte Lubin erst am Wochenende mit einem souveränen 35:27 gegen Vieve Kielce die Tabellenspitze in Polen erobert. Und die elfstündige Bustour entsprang durchaus einem professionellen Kalkül. „Ein Flug war für uns keine Option“, erklärte Zaglebie-Sekretär Marcin Mizera. „Eine solche Reise wäre nur eine Stunde kürzer, aber deutlich anstrengender gewesen.“
Die Polen agierten dann auch aufgeweckt und präsentierten einige ihrer Talente. Neben dem 24-jährigen Spielmacher Bartlomiej Jaszka (Andersson: „Das ist ein Mann mit Zukunft in der Bundesliga“) und dem in Gesprächen mit Berlin stehenden Halblinken Michal Kubisztal (Andersson: „Ich weiß nicht, was es in Polen zu essen gibt, aber er hat einen sehr harten Wurf“) gefiel auch der 25-jährige Keeper Michal Swirkula. Der war rundum zufrieden mit seinen Vorderleuten. „In Spanien war uns nach 25 Minuten die Luft ausgegangen“, sagte der Keeper Michal Swirkula. „Diesmal wollten die Jungs 60 Minuten kämpfen.“