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Eine ernüchternde letzte Minute

„Valladolid beherrscht am sichersten eine 6:0-Deckung“, hatte SG-Trainer Kent-Harry Andersson analysiert. Doch der Defensiv-Kanon des spanischen Tabellenfünften ist breiter gefächert. Der Schwede konnte sich nicht sicher sein, welche Variante seiner Trainer-Kollege Juan Carlos Pastor, der zu den „Taktik-Füchsen“ auf der Iberischen Halbinsel zählt, aus dem Hut zaubern würde. Für den Fall der Fälle übte Kent-Harry Andersson mit seinen Jungs auch das Verhalten gegen eine 5:1-Verteidigung. Ein Instinkt, der nicht trog. Valladolid agierte wirklich eine Stufe offensiver als in den meisten Partien. Aber die Flensburger zeigten sich nicht überrascht. Vor allem die Wurfgewalt von Marcin Lijewski und die Durchbrüche des frischgebackenen Vaters Joachim Boldsen verhalfen den Hausherren zu einer ersten Halbzeit, in der sie Oberwasser hatten.
Richtig davon ziehen konnte die SG aber nicht. Im Angriff schlichen sich allzu oft „Fehlzündungen“ ein. Sören Stryger oder Blazenko Lackovic blieben weitgehend blass, über den Kreis lief nicht viel. Zudem leistete man sich den Luxus, zu viele freie Wurfgelegenheiten auszulassen. Der BM-Keeper Josè Sierra parierte zwar nicht ganz so viele Bälle wie sein schwedischer Gegenüber Dan Beutler, dafür aber mehr „Big Points“. „Wir hatten die Möglichkeit uns abzusetzen“, ärgerte sich SG-Kreisläufer Johnny Jensen. „In manchen Aktionen fehlte uns aber die letzte Konzentration.“

Die Spanier zogen sich gut aus der Affäre.

Nach der Pause schienen die Hausherren, die Partie zunehmend mehr unter Kontrolle zu bekommen. Der Vorsprung wuchs auf vier Treffer. „Wir sind in dieser Phase nicht nervös geworden“, lobte Juan Carlos Pastor sein Team. „Es wurde um jeden Ball gekämpft.“ Beim 23:23 (46.) hatten die Südländer wieder egalisiert und signalisierten, dass sie ein Gegner auf Augenhöhe sind. Ihr Spielmacher „Chema“ Rodriguez hatte das Zepter fest in der Hand. Davon profitierten zunächst die Kreisläufer, in der Schlussphase die wurfstarken Eric Gull und Alen Muratovic.
Joachim Boldsen musste mit Leisten-Problemen passen, die 5:1-Abwehr von Valladolid richtete sich verstärkt auf Marcin Lijewski aus. Den Flensburgern drohten die Felle davonzuschwimmen. In dieser Phase entpuppte sich Ljubomir Vranjes als eine Belebung des Angriffs und sorgte mit seinen Akzenten dafür, dass die SG in Führung blieb. Dennoch erlebte die „Hölle Nord“ eine ernüchternde letzte Minute. Blazenko Lackovic brach frei durch, brachte den Ball aber nicht zum erhofften 33:29 unter. Im Gegenzug torpedierte Alen Muratovic mit dem Abpfiff das Wurfgerät in den Winkel. Ein Treffer, der die Stimmung in Flensburg endgültig lähmte.  

Die Trainer-Stimmen

Kent-Harry Andersson, SG Flensburg-Handewitt: „Es ist kein günstiges Los, zuerst zu Hause anzutreten. Man steht unter großen Druck, sich eine gute Ausgangsbasis zu erarbeiten.“
Juan Carlos Pastor, BM Valladolid: „Das waren nur die ersten 60 Minuten. Vor den nächsten 60 Minuten liegen wir mit zwei Toren zurück. Wir müssen wieder kämpfen.“

SG Flensburg-Handewitt: Bittere Pillen

Kent-Harry Andersson war häufiger am Rätseln.

Die Fans in der Flensburger Campushalle gelten durchaus als kreativ. Doch manchmal fehlt ihnen auch das berühmte Fingerspitzengefühl. Am Freitag gab es gleich zwei Negativ-Beispiele. „Zagreb, Celje, Barcelona“, hatten sie plakatiert, um dann BM Valladolid auf einem großen Transparent die rhetorische Frage zu stellen: „Und ihr wollt uns stoppen?“ Die 60 Minuten in der Campushalle zeigten indes, dass die Spanier sich durchaus auf Augenhöhe mit dem Bundesliga-Vierten bewegen können. Kommt der Hochmut vor dem Fall?
Nach 43 Minuten trauten dann die eigene Mannschaft, Trainer und Offizielle ihren Ohren nicht. Die SG hatte aufgrund einer fahrlässigen Chancen-Verwertung ein Vier-Tore-Polster aus der Hand gegeben. Die Nordtribüne skandierte: „Wir wollen euch kämpfen sehen!“ Joachim Boldsen, der wegen einer „weichen Leiste“ ausgeschieden war, schaute irritiert zu den Zuschauern, Kasper Nielsen reagierte leicht gereizt: „Wir stehen in einem europäischen Halbfinale, da gibt man automatisch alles!“ Kent-Harry Andersson nahm seine Jungs in Schutz: „Nicht gekämpft? Ich glaube, die gerufen haben, haben ein anderes Spiel gesehen.“

Die SG reist zuversichtlich nach Spanien.

Die „Dolchstöße“ in der eigenen Halle waren das I-Tüpfelchen auf keine einfache Woche in Flensburg. Zwar verkündete die Geschäftsführung, dass der 24-jährige Däne Thomas Mogensen die Nachfolge des scheidenden Regisseurs Joachim Boldsen antreten wird, doch die Bandscheiben-Operation von Einar Holmgeirsson, der in der nächsten Saison fest als zweiter Linkshänder eingeplant war, sorgte für Bestürzung. Dann mussten mit Blazenko Lackovic, Sören Stryger (beide Knie), Jan Holpert (Adduktoren) und Joachim Boldsen (Achillessehne) mehrere Akteure bei diversen Trainingseinheiten in der Woche passen. Dabei ging es darum, die Enttäuschung aus den „Beinen“ zu schütteln. „Alle hatten den Traum, auch die Deutsche Meisterschaft zu gewinnen“, umschrieb Linksaußen Lars Christiansen, der am nächsten Sonntag sein 100. Europapokalspiel für die SG bestreiten wird, die allgemeine Stimmung. „Das wird nichts mehr. Diese bittere Pille mussten wir erst einmal schlucken.“
Kent-Harry Andersson versuchte alle Negativ-Faktoren mit einer akribischen Analyse des Gegners zur Seite zu schieben. Der Schwede hatte sich mit allen Details im System von Valladolid beschäftigt. Etwa die Laufwege der Iberer bei der „zweiten Welle“, in denen Spielmacher „Chema“ Rodriguez die Fäden in der Hand hat. „Er trifft immer die richtige Wahl“, staunte Kent-Harry Andersson. Ein Phänomen waren für ihn auch die beiden Shooter Alen Muratovic und Eric Gull, die nach einem Angriff häufig auf der Bank Platz nehmen. „Die beiden können wegen ihrer vielen Pausen sehr viel Druck auf die Abwehr ausüben“, analysierte Kent-Harry Andersson. Hoffnungen steckte er gerade in Joachim Boldsen, der am Montag Vater einer gesunden Tochter geworden war. „Das wird sich positiv auf seine Leistung auswirken!“ Der Trainer hatte Recht – bis sich der Däne verletzte.
Trotz des mageren Polsters hat sich niemand in Flensburg aufgegeben. „Wenn wir so clever agieren wie Valladolid“, mutmaßt Manager Thorsten Storm, „sehe ich noch gute Chancen.“ Da bleibt nur zu hoffen, dass ein Kuriosum am Rande kein schlechtes Omen ist. Sowohl die ungarischen Schiedsrichter Pal und Csaba Kekes wie auch der italienische EHF-Delegierte Adriano Ruocco waren letztmalig am 13. März 2005 in der Campushalle gewesen. Damals traf Gregory Anquetil mit einem direkten Freiwurf in letzter Sekunde und beförderte die SG aus der Champions League, diesmal sorgte Alen Muratovic ebenfalls kurz vor Ultimo für eine Resultatsverbesserung. Kasper Nielsen reist zumindest ohne Bammel nach Spanien. „Es ist doch schön, auf der Rückfahrt einen Sieg zu feiern.“