Stripes
Stripes
Archiv

33:39 - Der Kieler Albtraum geht weiter

Hand aufs Herz: Wer hätte das nach dem bisherigen Saisonverlauf gedacht? Im Landesderby der Handball-Bundesliga fertigte die SG Flensburg-Handewitt den THW Kiel mit 39:33 (19:16) ab und ist nun vor dem Pokalspiel morgen (20 Uhr/DSF live) psychologisch im Vorteil.
In Gedanken versunken saß Kent-Harry Andersson vor der Pressekonferenz auf seinem Stuhl und blickte ins Leere. „Das war schon ganz okay heute“, antwortete er auf die Frage, ob er sich nicht über das überraschend deutliche 39:33 seiner SG Flensburg-Handewitt gegen den THW Kiel freue. Der Schwede freute sich im Stillen, lächeln konnte er nicht. „Das Spiel war sehr anstrengend“, sagte Andersson.

Jan Holpert gewann das Duell der Torhüter

Äußerlich ruhig wirkte auch „Noka“ Serdarusic. Doch in dem Kroaten brodelte es. Mit einer Niederlage im Derby bei der SG Flensburg-Handewitt hätte der Kieler Meistermacher durchaus leben können. Aber mit der Art und Weise, wie seine Mannschaft sich in Flensburg präsentiert hatte, wurmte ihn. „Wenn man so viele Ausfälle hat wie wir heute, ist es schwer in der Campushalle zu bestehen“, analysierte der Trainer. „Die rechte Seite war fast 45 Minuten lang tot, aus der Mitte kam viel zu wenig Druck, und Jan Holpert hat das Duell der Torhüter klar für sich entschieden.“
Der Kieler Albtraum gegen die SG Flensburg-Handewitt geht also weiter. Seit Mai 2002 haben die „Zebras“ im Kampf um Bundesliga-Punkte oder im Pokal nicht mehr gegen den Erzrivalen von der dänischen Grenze gewonnen. Lediglich vor vier Wochen im sportlich minderwertigen Supercup hatten die Kieler mit 36:34 die Oberhand behalten. Gleichzeitig ging in der Campushalle eine andere Kieler Serie zu Ende. Seit dem 6. Oktober 2004 (30:31 in Göppingen) hatte der THW in der Bundesliga nicht mehr verloren.
Selten hat in der jüngsten Vergangenheit ein Team ein Derby so dominiert wie die SG. Die Kieler konnten nach 60 intensiven Minuten sogar froh sein, mit nur sechs Toren verloren zu haben. Was die Zuschauer in der Campushalle und vor den heimischen Fernsehen erstaunte, war die spielerische Leichtigkeit, mit der die Gastgeber ihre Tore erzielten. Zwei, drei schnelle Kombinationen — und die Kieler Abwehr stand im „Dunkeln“. Ob von Außen, über den Kreis oder aus dem Rückraum — von allen Positionen war die SG an diesem Nachmittag brandgefährlich. „Der Knackpunkt war unsere Abwehr. Wir haben viel zu schnell Tore kassiert“, monierte Serdarusic.

Die Campushalle stand Kopf.

Warum der 55-jährige Kroate gegen die Flensburger mit einer verschobenen 5:1-Deckung gegen Lijewski begonnen hatte, wollte er nicht verraten. Er stellte vielmehr die Gegenfrage, „ob unsere 6:0-Abwehr anschließend denn besser war?“ War sie nicht — dennoch war die ungewohnte Anfangsformation Ausgangspunkt des Kieler Debakels. Denn auf diese Variante hatten sich die Flensburger vorbereitet. Vor allem Glenn Solberg und Johnny Jensen stießen in den ersten 15 Minuten immer wieder erfolgreich in die Lücken, die sich auftaten. Die Konsequenz: 6:3, 9:5 und 10:7 — der THW war verunsichert, zumal im Angriff nicht viel zusammenlief. Die rechte Angriffsseite mit Kim Andersson, Christian Zeitz (traf erst, als alles gelaufen war) und Vid Kavticinik enttäuschte. In der Mitte versuchte der angeschlagene Stefan Lövgren vergeblich, Struktur in die Aktionen zu bringen, und am Kreis war von Marcus Ahlm nichts zu sehen. So blieb nur Nicola Karabatic, der sich vehement gegen die Niederlage stemmte.
Ganz anders hingegen die SG. Dort griff ein Rädchen ins andere, angefangen von Jan Holpert bis zur Igor Kos. Der Flensburger Keeper, in dieser Saison bislang mit seinen Leistungen total unzufrieden, präsentierte sich in Derby-Form, wehrte insgesamt 18 Würfe ab. Die 6:0-Abwehr war schnell auf den Beinen — überragend dabei der Mittelblock mit Jensen und Solberg, der Ahlm völlig „zudeckte“. „Wir haben die Achse Lövgren — Ahlm lahm gelegt, das war sehr wichtig“, meinte Andersson. Ein zweiter Punkt war das schnelle Umschalten von Angriff auf Abwehr, mit dem die schnelle Mitte der Kieler und die Konter verhindert wurden. „Das haben wir sehr gut gelöst.“
Auch im Angriff bescheinigte der Schwede seinen Akteuren eine sehr hohe Qualität: „Das war heute eine ganz andere Mannschaft als zuletzt in Großwallstadt oder in der ersten Hälfte in Wilhelmshaven.“ Vor allem nach dem Wechsel spielten Solberg, Lackovic und  Lijewski die Kieler Defensive immer wieder „schwindelig“. 6200 begeistert mitgehenden SG-Anhänger feierten den Flensburger Angriffswirbel mit stehenden Ovationen.
Damit befindet sich die SG vor dem zweiten Aufeinandertreffen morgen im DHB-Pokal in der Ostseehalle psychologisch klar im Vorteil. „So ein Spiel haben wir gebraucht. Jetzt wissen wir, was wir spielen können“, meinte der überragende Flensburger Johnny Jensen. Doch  „Noka“ Serdarusic prophezeite den Flensburgern ein „ganz anderes Spiel“ als in der Campushalle: „Ich bin mir sehr sicher, dass die Totalausfälle sich vor eigenem Publikum nicht noch einmal so präsentieren werden.“ Dennoch hatten die Kieler — wie ihre Flensburger Kollegen — gestern einen freien Tag.

Lövgren: „Das tat richtig weh“

Für Stefan Lövgren (r.) tat das Derby "weh".

Zwölf Minuten und 30 Sekunden waren gespielt, 6:9 lag der THW Kiel hinten, als beim Kieler Anhang neue Zuversicht einkehrte. Spielmacher Stefan Lövgren betrat das Parkett in der Campushalle — und mit ihm die Hoffnung auf die Wende im Spiel. Gegen MT Melsungen hatte der 34-Jährige wegen einer Oberschenkelzerrung noch pausieren müssen. Gegen den Nordrivalen wollte Lövgren „unbedingt wieder dabei sein. Spiele gegen Flensburg sind immer ein Highlight“.
Nicht aber am Sonnabend. „Das tat richtig weh“, sagte der 252-fache schwedische Nationalspieler. Gemeint war nicht die Verletzung („Es hat noch ein bisschen gezwickt“), sondern die deutliche Niederlage, an der auch Lövgren nichts ändern konnte. „Wir waren ja nicht einmal in der Nähe, das Spiel zu gewinnen. Flensburg war auf allen Positionen besser besetzt.“
Von der Schelte wollte sich Lövgren nicht ausnehmen. „Das war nicht das, was ich spielen kann.“ Zwei Tore, fünf Fehlwürfe, zwei technische Fehler und eine Hinausstellung wies die Statistik für Kiels Spielmacher auf. „Das ist zu wenig“, meinte Lövgren selbstkritisch. Vor allem das sonst so perfekte Zusammenspiel mit seinem kongenialen Kreisläufer Marcus Ahlm kam überhaupt nicht zum Tragen. Ahlm erzielte den Treffer zum 1:0 (1.) — und zu diesem Zeitpunkt saß Lövgren noch auf der Bank.
Ausschlaggebend für Lövgren war aber nicht die eigene Angriffsleistung („33 Tore gegen Flensburg sind okay.“). „Wir haben heute in der Abwehr versagt. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal 39 Tore kassiert haben.“ Immer wieder tauchten die Flensburger Angreifer allein vor den Kieler Torhütern Henning Fritz und Mattias Andersson auf. „Wir haben beide zu oft im Stich gelassen. Wir standen viel zu weit weg von unseren Gegenspielern. Zudem klappten die Absprachen untereinander überhaupt nicht.“
Für das morgige Pokalspiel hat Lövgren Besserung gelobt. „Noch einmal werden wir es der SG nicht so leicht machen.“

„Nicht so einfach, wie es aussah“

Joachim Boldsen "sonderte" positive Signale ab.

Joachim Boldsen zeigte hinterher sein breites Grinsen: „Wir haben uns ja vorgenommen, uns von Spiel zu Spiel zu steigern. Das wird jetzt ein bisschen schwierig.“ Vor dem Pokalspiel am Dienstag in der Ostseehalle ist dem dänischen SG-Spielmacher trotzdem nicht bange. „Jetzt fahren wir ganz ruhig und locker nach Kiel.“
Erfolge gegen den THW gehören für Boldsen zu den besonderen Genüssen, doch diesmal stand bei ihm die Erleichterung im Vordergrund: „Wir haben vorher so schlecht gespielt. Deshalb war dieser Sieg ein noch viel wichtiger als sonst.“ Genau zum richtigen Zeitpunkt sei das Spiel für die SG gekommen, um die richtige Einstellung für diese Saison zu finden.
Boldsen als kämpferischer Protagonist, Glenn Solberg als kreativer — das Duo für die Rückraummitte der SG ergänzte sich einmal mehr brillant. Uneinig waren sie sich nur in der Beurteilung des Geschehens am Sonnabend. Während Boldsen sich darüber wunderte, dass beim THW so spät auf die indisponierte Abwehr reagiert wurde („die erste Viertelstunde war ja ein Witz“), sagte Solberg: „Es war nicht so einfach, wie es aussah. Es war schon eine besondere Leistung von uns. Wir haben Super-Geduld und Disziplin bewiesen.“ Spielerisch sieht der Norweger die SG nun auf gutem Weg: „Alle brauchten etwas Zeit. Jetzt wird es in jedem Training besser.“
Während sich zuletzt die Anzeichen verdichteten, dass Solberg sein letztes Bundesliga-Jahr absolviert, gab es von Spanien-Fan Boldsen überraschend positive Signale in Sachen Vertragsverlängerung: „Das Ganze ist nicht so schwierig, wie es aussieht. Ich fühle mich wohl in Flensburg. In ein paar Sachen sind wir uns ein bisschen uneinig, aber die sind alle zu klären.“

Ministerpräsident Peter Harry Carstensen war zu Gast beim Derby.

Stimmen

Thorsten Storm (SG-Manager): „Das war Balsam für unsere kleine Handball-Familie. So ein Spiel haben wir gebraucht, um in die Saison zu kommen. Dass der Stuhl unseres Trainers wackelt, wie in der Boulevard-Presse spekuliert wurde, ist völliger Quatsch. Wir werden mit Kent-Harry Andersson und der Mannschaft noch viel Spaß haben.“
Uwe Schwenker (THW-Manager): „Es gab große Unterschiede bei Bereitschaft, Einsatz, Biss  und Leidenschaft. Das war einzig und allein ausschlaggebend. Wenn diese Leidenschaft am Dienstag nicht da ist, bekommen wir in der Ostseehalle große Probleme.“
Marcin Lijewski (SG-Rückraumspieler): „Vor diesem Spiel hatten wir viel Sand im Getriebe. Aber solche Derbys helfen uns, um einen Schritt weiter nach vorne zu kommen.“
Johnny Jensen (SG-Kreisläufer): „Wir haben heute unser Spielsystem konsequent durchgezogen. Jetzt können wir ohne Druck nach Kiel zum Pokalspiel fahren.“
Jan Holpert: „Wir haben engagierter gespielt als der THW. Für uns  ging es darum, die Basis wieder zu finden. Die liegt im  Kollektivspiel — jeder  hilft jedem. Noch ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Wir sind ein Spätstarter und auf dem richtigen Weg.“
Adrian Wagner (THW-Linksaußen): „Das war heute sehr, sehr deutlich. Am Ende hat sich die SG in einen regelrechten Rausch gespielt. Wir waren emotional nicht in der Lage, kämpferisch  mitzuhalten.“
Henning Fritz (THW-Torhüter): „33 geworfene Tore müssten eigentlich für einen Sieg reichen. Doch unsere Abwehr funktionierte heute nicht. Untereinander nicht, und auch nicht im Zusammenspiel mit den Torhütern. Man kann in Flensburg verlieren, aber nicht so. Wir hatten eigentlich nie eine reelle Chance, zu gewinnen.“
Nicola Karabatic (THW-Rückraumspieler): „Ich hätte heute lieber nur zwei Tore geworfen und gewonnen, als acht Tore zu werfen und zu verlieren. Die Stimmung in der Campushalle hat mich nicht so beeindruckt. Als ich  mit Montpellier hier war, war es schlimmer. Die SG-Fans wussten, dass ich zum THW gehe und haben mich bei jeder Ballberührung ausgepfiffen.“
Viktor Szilagyi (THW-Rückraumspieler): „Schon bei der Fahrt zur Halle hat man gemerkt, dass es heute ein besonderes Spiel ist. Umso ärgerlicher ist es, dass bei uns von Anfang an das Feuer gefehlt hat. Wir waren motiviert, konnten es aber nicht aufs Spielfeld übertragen.“

Marcin Lijewski und Co kamen "Schritte weiter".