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SG überrollt Wilhelmshaven

Der Wilhelmshavener HV war keine Hürde für die SG Flensburg-Handewitt. Mit dem überragenden Dan Beutler im Tor deklassierte der Vizemeister in der Handball-Bundesliga den Außenseiter 33:15.
Die Besuche bei der SG Flensburg-Handewitt machen Michael Biegler nicht wirklich Spaß. Mit grimmiger Miene erscheint der Trainer des Wilhelmshavener HV zur Pressekonferenz, von der er nichts Gutes erwartet. Was soll er erzählen nach dem Kollaps aller Systeme in Angriff und Abwehr? Biegler diagnostiziert, dass etwas passiert sei, was es schon einmal gab, nämlich eine mit 5:18 verlorene Halbzeit: „Auch nicht viel besser als das 4:16 damals.“ Er kündigt an, dass eine „interne Aufarbeitung mit meiner Mannschaft erforderlich“ sei, und die werde schon wenige Stunden nach der R*ckkehr beginnen. Gute Nacht.
Noch Fragen? Nein, eigentlich nicht, ein 33:15 (14:10) spricht für sich. Dann will doch jemand wissen, ob es nicht Defizite in der Wilhelmshavener Fitness gebe, Bezug nehmend auf die zweifellos kräftig gebauten Spieler Wiegert und Behrends. Da platzt Biegler der Kragen: „Ich bin ja es  gewohnt, in Flensburg despektierlich behandelt zu werden. Also erwarten Sie nicht, dass ich darauf antworte.“

Blazenko Lackovic konnte in der zweiten Hälfte auch geschont werden.

Man muss Verständnis haben für den Mann, der sich von der SG Flensburg-Handewitt nicht ernst genommen fühlt, was er bei einem Pokalspiel vor zwei Jahren schon einmal angedeutet hat. Nun erlebte Biegler erneut, dass die SG sich gegen seine Mannschaft nicht angemessen anstrengte — und die Gäste trotzdem rasierte.
Kollege Kent-Harry Andersson hatte auf fünf Stammspieler verzichtet: Notgedrungen auf Michael Knudsen und Joachim Boldsen, halb freiwillig auf Marcin Lijewski, ganz und gar aus freien Stücken auf Jan Holpert sowie  Lars Christiansen, der nur für vier Siebenmeter das Parkett betrat. Der Rest lieferte in der ersten Hälfte eine emotionsarme Darbietung mit eindeutiger Körpersprache: Ja, ja, wir spielen nicht toll, aber bitte, was soll denn schon passieren?
Unter Feuer stand nur Dan Beutler, der sich für die Chance, von Beginn an zu spielen, mit einer Traumleistung bedankte. Über das Prädikat „Weltklasse“, dass einem Torhüter bei einer Quote von über 60 % gehaltener Bälle zusteht, mag man angesichts der Qualität des Gegners streiten. Der Schwede gab zu: „Manchmal ist es Weltklasse, wenn du zehn Bälle gegen eine Topmannschaft hltst. Heute war es gut. Weltklasse? Ich weiß nicht.“ Aber dass die Wilhelmshavener sich auch Viertelchancen nahmen, ist ja nicht Beutler zum Vorwurf zu machen.

Sören Stryger und Co überrollten ihren Gegner.

Die Partie plätscherte lange ausgeglichen dahin, weil die Flensburger zunächst recht nonchalant mit ihren Wurfgelegenheiten umgingen. In der Halbzeit müssen sie irgendwie doch die Lust am Handball wiedergefunden haben. Jedenfalls waren sie im zweiten Durchgang nicht mehr zu bremsen. Die Tore fielen vor allem aus Kontern, weil der WHV vorn nichts mehr zu Stande brachte und einen Ball nach dem anderen verlor. „Eine Katastrophe, nicht zu erklären“, sagte der ehemalige SG-Kapitän Jan Fegter, der zum letzten Mal als Wilhelmshavener in die Campushalle kam.
Das Publikum kam in den Genuss von spektakulären Aktionen wie dem Kempatrick, den Kasper Nielsen zum 25:11 vollendete. Und auch das Tor von Allan Ramussen nach 55 Minuten, das zweite für Wilhelmshaven in dieser Halbzeit, feierten die SG-Fans mit Jubelstürmen, was wohl auch nicht geeignet war, Michael Bieglers These von einer gewissen Überheblichkeit im Norden zu erschüttern.
Die Flensburger waren erleichtert, dass die Rückkehr in den Liga-Alltag nach dem Kiel-Drama so reibungslos geglückt war. „Die beste Halbzeit der Saison“ hatte Andersson gesehen. Lars Christiansen fühlte sich „frisch wie nie“ und stellte fest: „Es hat gut getan, dass wir keinen Stress hatten. In der nächsten Woche haben wir zwei schwere Spiele.“ Schon am Dienstag geht es zur HSG Wetzlar, am Sonnabend nach Göppingen.

Spieler des Tages: Dan Beutler

Spieler des Tages: Dan Beutler

Wenn ein Torhüter etwa die Hälfte aller Bälle abwehrt, die ihm entgegen fliegen, sprechen Experten von einer herausragenden Leistung, bei einer Quote von deutlich über 50 Prozent gar von „Weltklasse“. SG-Keeper Dan Beutler kam im Spiel gegen den Wilhelmshavener HV auf sagenhafte 60,5 Prozent: 23 Paraden bei 38 Würfen.
„Ein Supergefühl. Manchmal hat man solche Tage. Ich wusste, wo jeder Ball hinkommen würde. Es war so einfach“, sagte Beutler, der in der zweiten Hälfte eine ganz besondere Erfahrung machte: In 25 Minuten kasierte er nur einen Gegentreffer, die SG kam in diesem Zeitraum auf die für ein Bundesligaspiel phänomenale Bilanz von 16:1 Toren. „So etwas habe ich noch nie erlebt. Es war sogar drin, dass wir bei diesem einen Gegentor bleiben. Aber bei so einer Überlegenheit lässt irgendwann die Konzentration nach“, meinte der Schwede.
Jan Holpert konnte sich beruhigt auf der Bank zurücklehnen. „Eine tolle Leistung. Abwehr und Torwart haben super zusammengespielt“, zollte der SG-Oldie seinen Kollegen Anerkennung. Die Arbeit der Vorderleute wusste auch Dan Beutler zu würdigen: „Es hat ganz viel mit der Abwehr zu tun. Sie hat unglaublich geholfen. Ich bin ein Abwehrtorhüter, und heute hat die Zusammenarbeit perfekt funktioniert.“ Neben der Freude über seine Leistung ließ der 28-Jährige Erleichterung spüren. „Das ist wichtig für die Zukunft. Man braucht solche Spiele für das Selbstvertrauen“, sagte Beutler, der sich auch in der schwedischen Auswahl wieder als feste Größe hinter Thomas Svensson (38/Portland San Antonio) etabliert hat. Nun hofft er, dass die Kritik an den Torhüterleistungen der SG insgesamt und die Gerüchte um Neuverpflichtungen verstummen. „Ich weiß: Das ist das Profileben. Aber es stört die Konzentration. Ich finde, Jan Holpert und ich sind ein gutes Gespann“, sagte Beutler, der noch bis 2007 unter Vertrag steht.

Die Analyse
Wer den Angriff der SG Flensburg-Handewitt in Schwierigkeiten bringen will, versucht es mit einer offensiven Abwehr. Doch Wilhelmshaven verzichtete entgegen der Erwartungen von SG-Trainer Kent-Harry Andersson darauf, dem Favoriten eine 5:1-Formation entgegenzusetzen. „Das ist unsere Notdeckung, normal spielen wir die 6:0, und die wollten wir heute weiter stabilisieren“, erzählte WHV-Routinier Jan Fegter. Die Gäste kamen eine Halbzeit lang ganz gut zurecht, weil sie SG-Kreisläufer Johnny Jensen weitgehend zudeckten. Allerdings profitierten sie auch von ständig wechselnden Flensburger Rückraumbesetzungen, ein echter Rhythmus stellte sich da nicht ein. Zudem ging die SG recht großzügig mit ihren Wurfgelegenheiten um — wohl im festen Bewusstsein, dass in der Defensive nichts anbrennen würde. Die zweite Halbzeit ist schnell erzählt: SG-Abwehr und Beutler eroberten Ball um Ball. Wilhelmshaven wurde von Kontern überrollt.