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Tragisches Ende einer wundersamen Aufholjagd

Welch einer Drama: Buchstäblich in letzter Sekunde ist die SG Flensburg-Handewitt aus allen Champions League-Träumen gerissen worden. Der deutsche Meister gewann nach großem Kampf zwar das Viertelfinal-Rückspiel gegen Montpellier HB mit 32:19 (17:11), ihm fehlte in der Endabrechnung nach der 22:36-Hinspielpleite aber ein Tor zum Einzug ins Halbfinale.
Die Hallenuhr zeigte 60:00 Minuten an: Viele Zuschauer lagen sich auf den Rängen freudetrunken in den Armen, kreischten vor Begeisterung, hüpften wie kleine Kinder auf ihren Sitzen, konnten das Unfassbare nicht fassen: Die SG hatte 14 Tore aufgeholt, war im Halbfinale. Unglaublich — die Campushalle stand Kopf. Das „Wunder von Flensburg“ war wahr geworden — bis Gregory Anquetil mit einem direkt verwandelten Neunmeter von der Außenlinie mitten ins Flensburger Tor und Herz traf. 19:32, Tor, aus, alles vorbei. Rien ne va plus!
Die ganze Halle starb den Sekundentod. Vollbremsung: Von 100 auf null in einer Sekunde. Eben noch himmelhochjauchzend, nun zu Tode betrübt. Bis auf ein paar extatisch jubelnde Franzosen herrschte Schweigen und Fassungslosigkeit im weiten Rund. Wieso? Weshalb? Warum? Tränen der Freude wichen denen der Trauer. Es war skurril: Der haushohe Sieger stand mit leeren, der haushohe Verlierer mit erhobenen Händen da. Eine Szenerie, die an das Finale der Fußball-Bundesliga 2001 erinnerte, als Schalke 04 sich schon als Meister wähnte, dann aber in allerletzter Sekunde vom FC Bayern ausgebremst wurde. Flensburg, der „Halbfinalist der Herzen“, trug Trauer. C'est la vie!

Lars Christiansen kann es nicht fassen.

Müßig zu diskutieren, ob der finale Neunmeterwurf von Anquetil regelgerecht ausgeführt worden war. Ob einer der beiden ungarischen Schiedrichter zuvor nicht schon die Partie endgültig abgepfiffen hatte. Ob die Flensburger Vier-Mann-Mauer beim letzten Wurf zu weit rechts gestanden hatte. Ob der zuvor sensationell haltende Jan Holpert (20 Paraden!) seine Beine hätte schneller schließen können. Egal, die große Flensburger Aufholjagd endete tragisch — nach einem mehr als denkwürdigen Spiel voller Dramatik und Emotionen. „Mehr geht nicht“, sagte ein sichtlich geknickter Trainer Kent-Harry Andersson nach einer seiner Meinung nach „Superleistung“ seiner Truppe. „Besser kämpfen und besser spielen können wir nicht.“ Die Mannschaft habe alles gegeben und fast alles richtig gemacht, meinte ein deprimierter Christian Berge. „Und dann kommt so ein Scheißwurf...“
Vor dem Anpfiff hatte kaum jemand unter den 6000 Zuschauern auch nur einen Pfifferling auf die Gastgeber gegeben. Zu hoch erschien die 14-Tore-Hypothek aus dem Hinspiel. Manager Thorsten Storm hatte nur ein mildes Lächeln allerorten geerntet, wenn er im Stile eines Politikers vom „Projekt 15“ sprach. Doch bereits zur Pause (17:11) hatte seine „Partei“ die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen und  war — trotz des Ausfalls von „Verteidigungsminister“ Glenn Solberg — auf bestem Wege, die Macht an sich zu reißen. Spätestens nach dem 26:15 (44.) durch den überragenden Lars Christiansen war es dann soweit: „Hier regiert die Hölle Nord“, schrie das Volk. Die „Allez, allez, Montpellier“-Rufe verstummten. 
Duplizität der Ereignisse, allerdings mit anderen Vorzeichen. Im gleichen Stile wie die Flensburger im Hinspiel taumelte nun der französische Meister wie ein stark angeschlagener Boxer über das Parkett. Der technische K.o. war nur noch eine Frage der Zeit — und 60 Sekunden vor dem Abpfiff (fast) perfekt, als Christian Berge zum 32:18 traf. Die „Mission impossible“ stand kurz vor ihrem krönenden Abschluss und die „Campushölle“, die ihre Helden förmlich nach vorne trug, Kopf. Um herzkranke Besucher musste man sich ernsthafte Sorgen machen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die SG das Halbfinal-Ticket in der Hand und bis zehn Sekunden vor dem Schlusspfiff sogar noch den Ball. Zeitspiel, Zeitstrafe gegen Berge, Angriff Montpellier, Neunmeter, Tor. Au revoir, SG!
Als Erster fand Sören Stryger wieder Worte: „Heute sind wir todtraurig, doch morgen blicken wir wieder nach vorne.  Stolz könne man sein, so der SG-Kapit*n, auf die Mannschaft und die Zuschauer. Der letzte Akt einer tollen Show ohne Happy-End. Chapeau, SG!