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Wundenlecken statt Wachwechsel

(sh:z; Holger Petersen) Es war kurz nach 21 Uhr, als sich am Mittwochabend in den Katakomben der Flens-Arena der Weg zweier Leidensgenossen kreuzte. Der eine gut, der andere weniger gut gelaunt. Der 30:29-Derbysieg der SG Flensburg-Handewitt gegen den THW Kiel (30:29) war gerade einmal eine halbe Stunde alt, als sich Tobias Karlsson – auf Krücken – und Alfred Gislason – auf Krücken – zufällig trafen. „Was ist passiert? Wie geht’s?“, schoss es aus beiden Patienten unisono heraus. Sehneneinriss im Oberschenkel traf auf Knorpelschaden im Knie. In aller Kürze tauschten der SG-Kapitän und der THW-Trainer ihre Krankengeschichte aus, wünschten sich alles Gute und gingen, nein humpelten dann auseinander. Der Schwede verschwand mit einem breiten Lächeln in die von lauter Discomusik und Jubelschreien erfüllte SG-Kabine, der deprimierte Isländer trottete, auf seine Gehhilfen gestützt, Richtung THW-Kabine, in der Grabesstille herrschte.

„Jetzt ist Flensburg drei Punkte und 42 Tore vor uns“, sagte Gislason nach dem vermeintlichen Titel-K.o. in der Höhle des Löwen: „Es wird schwer, sie noch zu erreichen.“ Dem jahrelangen Branchenprimus droht eine weitere Saison ohne Meisterschale. Und dass trotz einer „starken kämpferischen und spielerischen Leistung im Topspiel“, wie Kiels Abwehrchef Rene Toft Hansen befand. Eine Punkteteilung nach der temporeichen und kampfbetonten Partie hätte dem wechselhaften Spielverlauf wohl am ehesten entsprochen, so aber verloren die Kieler im Titelrennen an (vorentscheidenden) Boden. „Wenn Flensburg weiterhin dieses Glück hat, dann wird an der Spitze wohl nichts mehr passieren“, meinte THW-Geschäftsführer Thorsten Storm.

Es waren wie fast immer Kleinigkeiten, die über Sieg und Niederlage im  Duell der Erzrivalen entschieden. Das Pech, das die damals besser aufspielende SG im November beim 23:24 im Hinspiel in der Landeshauptstadt hatte, traf diesmal die Kieler, die kurz vor einem Wachwechsel an der Tabellenspitze der Bundesliga standen. Über weite Strecken erwies sich ihre Deckung als sehr sattelfest, Torhüter Niklas Landin als sicherer Rückhalt und der Rückraum um Duvnjak, Bilyk und Zeitz als durchschlagkräftig. Doch es sollte an diesem Tag einfach nicht sein.

Was wäre gewesen, wenn den vom wieder einmal überragenden Domagoj Duvnjak angetriebenen „Zebras“ Mitte zweiter Halbzeit beim 22:20 nur ein einziges Mal eine Drei-Tore-Führung geglückt wäre? Was wäre passiert, wenn das Schiedsrichter-Duo Geipel/Helbig nicht – wie viele Beobachter hinterher behaupteten – fälschlicherweise Rene Toft Hansen nach einer Abwehraktion gegen Holger Glandorf den Roten Karton gezeigt und damit das starke Kieler Abwehrbollwerk gesprengt hätte? Und wie wäre das Spiel wohl ausgegangen, wenn THW-Rückraumspieler Marko Vujin sich 50 Sekunden vor Ultimo nicht zu einem unnötigen Gerangel mit dem Flensburger „Aggressive Leader“ Kentin Mahé, das ihn eine Zeitstrafe bescherte,  hätte hinreißen lassen?

So aber entpuppte sich das gefühlte Unentschieden am Ende als glücklicher Flensburger Sieg, der der Mannschaft von Trainer Ljubomir Vranjes („Ich finde, wir haben total verdient gewonnen“) einen großen Vorteil im Meisterrennen verschaffte. Die SG (35:3 Punkte) hat noch den neuen Tabellenzweiten Rhein-Neckar Löwen (32:4) in der Flens-Arena zu Gast, der THW (32:6) muss noch in Mannheim beim Titelverteidiger antreten. „Die Meisterschaft wird aber immer am Ende einer Saison entschieden“, warnte SG-Geschäftsführer Dierk Schmäschke vor verfrühter Euphorie. Er muss sich nun auf die Suche nach Ersatz für die länger verletzten Tobias Karlsson und Johan Jakobsson machen.

Für beide Nordclubs geht es am Wochenende auf internationalem Parkett weiter. Die Kieler müssen am Sonnabend (17.15 Uhr) als Favorit beim Schweizer Meister Kadetten Schaffhausen ran, die Flensburger tags darauf (17.15 Uhr) beim polnischen Vizemeister Wisla Plock.